Wenn das Eis geht.

Skizze von Teo von Torn.
in: „Montags-Revue aus Böhmen” vom 11.03.1901,
in: „Bukowinaer Post” vom 14.03.1901,
in: „Der deutsche Correspondent” vom 31.03.1901


Bläulichweiß lag die Mondnacht über dem Strom. Wohin das Auge sah, überall ein stumpfes todtes Weiß, obwohl es seit vielen Tagen nicht geschneit hatte.

Der Frost hielt sich wie in schweigendem Ingrimm festgekrallt an den von spitzen, lichtlosen Krystallen starrenden Uferbäumen, an den weitvorspringenden Dächern der Ladeschuppen, deren Luken sich von fern wie schwarze leere Augen ausnahmen. Unter seinem beklemmenden Drucke knackte und ächzte es in den niedergelegten Masten der Weichselkähne, die sich wie in stillem Schauer an das Ufer drückten.

Sonst regte sich nichts. Nur weit drüben jenseits des Flusses verrieth ein breiter unregelmäßiger Haufen von Lichtern, die alle in einem riesigen Hofe schimmerten, Bewegung und Leben. Dort lag der Bahnhof. Hie und da ein Stoßen und Schrillen rangirender Züge — und ein kurzer Pfiff auch. Wenn dieser verhallt war, dann lösten sich zwei Lichter von den übrigen ab, und wie eine dunkle Schlange fauchte ein Güterzug durch die weiße Nacht — erst langsam und tastend — dann immer schneller, bis er in tosendem Rollen über die Eisenbahnbrücke schmetterte, deren Bogen und Gitterung sich in scharfen Conturen aus der Helle abhoben.

Der blöde Blick des bis über die Nase in seinen stinkenden Schafpelz gehüllten Schuppenwächters war eben einem solchen Zuge gefolgt. Jetzt bemerkte er Licht in dem kleinen viereckigen Fensterchen eines der nächsten Kähne. Er löste sich aus der schützenden Thorecke, in der er bis dahin gelehnt hatte, ab und schlurrte mit seinen schweren, strohgefütterten Holzschuhen dorthin.

Das Fenster war dicht zugefroren, wie mit eisigem Barchent ausgeschlagen. Dennoch wußte der alte Zdislaw Budereck ganz genau, was da los war.

Der Stefan Konsierowski aus Wloclavek konnte wieder nicht schlafen.

Das war fast jede Nacht so, seit er hier mit seinem Kahn festlag. Und wenn er nicht schlief, dann betete er — oder er trank.

Der alte Wächter war ja auch fromm; jeden Sonntag hörte er zu St. Jacob das Hochamt und die Predigt — und auch sonst, wenn er in der Nacht von seiner Thorecke aus jemand bemerkte, der wie ein Spitzbube aussah, so schlug er ein Kreuz und sprach drei „Vater unser” und drei „Ave” in sich hinein. Im Uebrigen aber vernachlässigte er auch das Trinken nicht — und deshalb hätte er gern gewußt, ob der Stefan Konsierowski heute —

Aus dem kleinen schwarzen Blechschlot wirbelten plötzlich blaue Rauchwolken auf. Der Alte nickte befriedigt vor sich hin und polterte dann ohne weiteres über die unter seinem Gewicht knarrende und pfeifende Bohle auf den Kahn.

Während er sich vorsichtig um den dicken Steuerbaum herumtastete, rief ihn von unten eine dumpfe Stimme an.

„Ich bin's, Panie Konsierowski, ich bin's nur — der Budereck!” rief der Wächter zurück, stieg aus seinen Schuhen und zwängte sich die kleine Hühnertreppe hinab, welche zu der Wohnung des Schiffers führte.

Die schmale Thür öffnete sich, und der Schiffer trat aus dem Küchenwinkel in das Zimmerchen zurück, damit der Gast eintreten konnte.

„Niech bendzie pochwalony —”

„Na wieki wiekuw —” erwiderte Stefan Konsierowski mürrisch und fügte an den frommen Gruß auch gleich die kurze, schroffe Frage: „Was willst Du"!”

Der Alte hatte den Kragen seines Schafpelzes zurückgeschlagen und blinzelte den Schiffer mit einem eigenen Gemisch von Pfiffigkeit und Verlegenheit an.

„No — was soll ich wollen — —” erwiderte er, indem er die Schultern hob und mit der inneren Handfläche sich das Eis aus dem Bart wischte: „Ich werde ein ,Vater unser' mit Dir sprechen —”

„Ich bete nicht!”

„Oh — —” machte der Alte, indem er in Bedauern und Mißbilligung den Kopf wiegte, gleichzeitig aber mit der rothen unförmlichen Nase um sich schnupperte, da er köstlichen heißen Schnaps roch.

„Weshalb soll ich beten —”

„No — damit das Eis geht,” erwiderte Budereck zerstreut, indem er jeder Bewegung das Schiffers mit geradezu ängstlicher Spannung folgte.

Dieser hatte die dampfende Casserolle hereingeholt, goß achselzuckend eine Stampe von dem heißen Getränk hinunter. Er machte eine krause Nase und schüttelte sich, als er dann gleichgiltig sagte:

„Das Eis geht nicht eher, als bis es gehen soll.”

„Aber Panie Konsierowski,” erwiderte der Wächter kläglich, „wie kann man blos so etwas sagen! Ich bin auch schon für Euch am Pegel unten gewesen — jawohl; das Wetter kann bald umschlagen —”

„So —”

„Ich meine, daß Ihr Euch doch ein wenig freuen könntet, Panie Konsierowski —”

„Ach was!”

Wieder trat eine Pause ein, während welcher Zdislaw Buderek fortwährend schluckte. Der Schiffer aber, ein grobknochiger Hühne mit gelblichblondem Bart und tiefliegenden Augen, trank unaufhörlich — und beim Glase schüttelte er sich, als nähme er Medicin.

Endlich drehte der alte Wächter ein paarmal seine Mütze in den Händen, athmete tief auf und fragte lauernd:

„Und wie ist es mit Eurer lieben Frau, Panie Konsierowski — — wollte sie nicht heute kommen —?”

„Ich habe es Euch doch schon gesagt, alter Schwachkopf — wenn das Eis geht!”

Der Schiffer schrak dann unter dem Klang seiner eigenen Stimme zusammen. Er schien sich erst jetzt bewußt zu werden, was er gesagt. Ohne hinzusehen, stellte er tastend das Glas bei Seite, nickte nachdenklich vor sich hin und wiederholte:

„Wenn das Eis geht — — natürlich. Wann denn sonst! Ihr müßt wissen, Alter, daß sie mir das selbst gesagt hat. Und was die Brona sagt, das ist ein Wort, versteht Ihr! Jawohl, wie ich mit den 3000 Centnern Leinkuchen in Danzig war, da hat sie es mir gesagt — ganz genau. In einem weißen Kleide wollte sie kommen — — mit einem weißen Blümchen im Haar und an der Brust und in beiden Händen — und dann immer die Weichsel entlang — unter Kanonendonner und Musik — — wenn das Eis geht —.”

„Hm, hm,” machte der Alte, indem er sich sachte an die Casserolle heranpürschte, „und da meinte ich eben — man kann nicht wissen — — die Weichsel ist auch schon unter Frost gegangen — hm.”

„Wie meint Ihr —”

„Na, es ist doch möglich —”

„Jesus Maria!” schrie der Schiffer auf, indem er sich so jäh erhob, daß sein Schädel gegen die niedrige Decke krachte. „Ihr glaubt, daß — — —”

Mit einem wilden Satze war er draußen.

Zdislaw Buderek hörte, wie der Schiffer von Bord auf das Eis sprang — dann setzte er mit einem pfiffigen überlegenen Lächeln die Casserolle an den Mund und trank sie in einem Zuge leer.

Oh wie war das gut! Darum konnte man schon eine kleine Lüge sagen. So ein gutes Getränk! Der Wächter schnalzte mit der Zunge und wischte sich über den triefenden Bart. Nun konnte man wieder aushalten bis um sechs Uhr früh.

Behaglich stöhnend, kletterte er nach oben, stieg in die Holzschuhe und ging an Land. Dort kuschelte er sich wieder in seine Ecke im Thorweg und blinzelte schläfrig hinter dem Panie Konsierowski her, der da weit draußen durch die weiße Nacht hastete — seinem Weibe entgegen.

„So ein dummer Kerl —” brummelte Zdislaw Buderek vor sich hin. „Wo doch die Frau schon seit heilig' drei König' unter dem Eise liegt — irgendwo —”

*           *           *

Bläulich weiß lag die Mondnacht über dem Strom.

Aber wo sonst der Frost sich festgekrallt hielt, sickerte und tropfte es von Tausend blinkenden Zapfen; aus den Rinnen klatschten die Tropfen mit der Regelmäßigkeit einer Uhr. Die weißen Hauben der Dächer trieften, hie und da rutschte ein breites Stück ab und schlug auf die Uferstraße.

Das kleine vergitterte Fensterschen im Kahne des Stefan Konsierowski hatte Licht.

Aber der alte Wächter traute sich nicht recht hin — es hatte sozusagen auch keinen Zweck, denn aus dem Schlot wirbelten keine Wölkchen, und der Schiffer saß seit Stunden schon auf der Ankerwinde und spähte stromaufwärts. [Montags-Revue aus Böhmen: „stromabwärts” D.Hrsgb.]

Plötzlich verfinsterte sich der Himmel. Der Mond verschwand hinter dichtem Gewölk, die Lichter drüben am Bahnhof traten deutlich in die Nacht.

Es begann zu schneien.

Immer weißer und dichter wirbelte der lautlose Tanz — — da — ein reibendes Knattern von weit her — ein anwachsendes heulendes Stöhnen, das über den Fluß lief. Die Weichselkähne hoben sich schwer von der Wasserseite und neigten sich nach dem Ufer zu — immer tiefer und tiefer — — — bis ein donnerndes Krachen die Luft erschütterte und den Boden unter den Füßen wanken machte —

Die Decke war geborsten. Aus den schwarzen Rillen gurgelte das Wasser auf — die Sprungstellen öffneten und schlossen sich — ein tosendes Schieben und Drängen —

„Das Eis geht!”

Während dieser gellende Ruf durch den Höllenlärm der berstenden und scheuernden Schollen tönte, während es auf den Kähnen wach wurde und das todte Ufer sich mit einem Schlage bevölkerte, hatte Panie Konsierowski die Arme emporgeworfen und sich auf das wandernde Eis gestürzt.

Da kam sie ja — mitten auf der Weichsel entlang — unter Kanonendonner und Musik — — ganz wie sie es versprochen hatte; mit weißen Blümchen im Haar und an der Brust und in den Händen.

Und sie streute die Blüthen über ihn aus. Jauchzend griff er danach, bis an einer Stelle die sich aufeinanderthürmenden Schollen ihn zermalmten.

— — —